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Die durchgeknallte Tante schenkt Christine ein Plüschtier

„Gut so. Es wird langsam.“

Christine sah sich mit kritisch gefurchter Stirn in ihrem Zimmer um und nickte. Dafür, dass sie erst vorgestern den Schlüssel vom Vermieter erhalten hatte, und dass gestern hier noch ein Tohuwabohu aus halb aufgestellten Schränken, IKEA-Möbeln im Lieferzustand und unbeschrifteten Umzugskartons geherrscht hatte, sah es jetzt, an diesem Samstagnachmittag ganz manierlich aus.

Sie atmete erleichtert durch und lächelte vor sich hin. Ihre erste eigene Wohnung, wie aufregend! Zwar nicht einmal zwanzig Quadratmeter, das Miniaturbadezimmer und den Flur mitgerechnet. Nur ein Anderthalb-Zimmer-Appartement in einem tristen Bau aus den 80ern. Schlichte Raufasertapeten, alte Fenster und der Teppichboden hatte auch schon einige Jährchen auf dem Buckel. Alles lange nicht so gediegen und hübsch wie im Haus der Eltern.

Egal! Das hier war ihres! Nicht nur ein Kinderzimmer. Ihre erste, echte, eigene Bleibe. Eine Studentenbude, wie sie im Buch stand. Sie strich mit den Fingerspitzen an dem Regalbord entlang, auf dem die Fotos ihrer Eltern und von einigen Freundinnen stehen würden. Noch ein paar Kissen, eine Kuscheldecke, die Bilder an die Wand, und das hier würde richtig schnuckelig aussehen. Jippie!

Christine schlenderte ins Bad und wusch sich die Hände, die sich vom vielen Schrauben ganz roh anfühlten. Ihr Blick fiel in den Spiegel und sie betrachtete sich kritisch. Ein klein gewachsenes Mädchen war da zu sehen. Braune Haare, ovales Gesicht, eine freche Brille in knallrotem Plastik. Die hatte sie auch erst letzte Woche gekauft, nach endlosem hin und her. Sowohl Mimi, ihre jüngere Schwester, als auch Gwen, ihre beste Freundin, hatten sie bestürmt, das Ding zu nehmen.

Ihr Spiegelbild grinste. Den Ausschlag für den Kauf hatten letztlich nicht die modischen Gründe gegeben. Sondern ihre geheime Hoffnung, dass die Brille ihre künftigen Kommilitonen vielleicht ein wenig ablenken würde. Von der Problemzone.

Mit einem Seufzer ließ sie ihren Blick tiefer rutschen. Warum zum Geier mussten ihr auch nur solche großen Möpse wachsen? Seit einem halben Jahr brauchte sie BHs in der Größe 36E, und wenn sie Pech hatte, würden auch die irgendwann nicht mehr ausreichen. Die Blicke in der Schule waren schon unangenehm gewesen, und die Leute dort kannte sie seit Jahren. Ob ihre noch unbekannten Mitstudierenden sie nur als wandelndes Paar Riesentitten wahrnehmen würden?

Distanziert musterte sie die drallen Halbkugeln unter dem Stoff. Nachdem sich vor drei Stunden ihr Vater verabschiedet hatte, Werkzeugkoffer in beiden Händen, hatte sie sich bequeme Sachen angezogen, eine Jogginghose und ein altes Shirt. Ohne BH. Noch konnte sie sich das leisten. Die Brüste wippten und schaukelten zwar bei jeder Bewegung, aber sie saßen hoch und straff. Das erfüllte sie mit einer Art bittersüßer Genugtuung. An ihrer Mutter konnte sie sehen, wie eine solche Fülle fünfundzwanzig Jahre später aussah.

„Ach, Scheiß drauf!“, murmelte sie und schlug den Blick nieder, auf ihre Hände. „Ich bin zum Studieren hier. Mir doch egal, was alle denken.“

Die tapferen Worte munterten sie etwas auf, obwohl das eine Lüge war. Wie sie genau wusste. Leider war ihr ganz und gar nicht egal, was andere Leute von ihr hielten. Ach Mensch, warum konnte sie nicht so unbefangen und fröhlich sein wie Gwen? Warum plagte sie sich ständig mit tausend Wenns und Abers herum, mit so vielen Hätte, Könnte, Würde, Sollte. Das machte alles nur noch schwerer mit den Jungs. Wenn sie doch nur…

Da unterbrach das Schrillen der Klingel ihre Gedanken.

Christine zuckte zusammen bei diesem noch ungewohnten Ton. Wer besuchte sie, um diese Zeit?

„Ja bitte?“, fragte sie in den Plastikhörer der Sprechanlage neben der Tür.

„DHL“, quäkte es aus der Muschel. „Ich habe ein Paket für sie.“

„Äh…“ Sie blickte an sich hinunter. „Können sie es raufbringen und vor die Tür stellen?“

„Leider nicht.“ Ein Schnauben. „Das Paket hat Sondergröße. Das bringe ich nicht alleine hoch.“

„Oh… gut. Bitte warten sie. Ich bin gleich unten und helfe.“

Sie hängte den Hörer ein, öffnete den brandneuen Schrank und riss den weitesten Pulli aus dem Stapel. Den grauen, der an ihr hing wie ein Zelt. Mit etwas Glück würde das ihren BH-losen Zustand verhüllen. Für weitergehende Maßnahmen hatte sie jetzt keine Zeit.

Mit fliegenden Füßen rannte sie die zwei Treppenläufe hinunter. Unten bremste sie und schaltete auf einen gemessenen Gang um, damit ihre Titten nicht hüpften wie verrückt. Blöde Euter!

Auf dem Gehweg stand der gelbe Lieferwagen, beide Hecktüren geöffnet. Ein älterer Mann in DHL-Uniform schob einen gewaltigen Karton zur Ladekante. Der braune Quader mochte fast so hoch sein wie sie selbst. Sie blinzelte. Was konnte das nur sein? Sie hatte nichts bestellt, soweit sie wusste. Auf jeden Fall nichts mit diesen Ausmaßen.

„Christine Brenner?“, fragte der Mann und sah auf sein Tablet.

„Ja.“

„Gut.“ Ein elektronisches Piepsen. „Ist nicht schwer. Aber sperrig.“ Der Paketbote sprang aus dem Laster. „Ich möchte nichts beschädigen.“

„Kein Problem. Ich helfe gerne.“

Zu zweit stapften sie die Treppe hoch. Tatsächlich beinhaltete der riesige Karton nur wenige Kilogramm an Gewicht. Doch das Volumen füllte den winzigen Flur hinter der Eingangstür ihres Appartements beinahe aus, als sie die Lieferung oben hatten.

„Danke, und noch ein schönes Wochenende.“

Der DHL-Fahrer lächelte müde und ließ seine Augen zwei Sekunden auf ihrem Busen ruhen, bevor er sich umwandte und die Treppe hinunter trottete. Sie schloss die Türe, um seinen Blick und den Rest der Welt auszusperren, und quetschte sich an der Kartonbarrikade vorbei. Gespannte Neugier erfüllte sie.

An einer Ecke erspähte sie den Adressaufkleber. Sie kniff die Augen zusammen, um die kleinen Druckbuchstaben lesen zu können.

„Absender: Dixie L. Vordersen, Tannenweg 66, 13587 Berlin“, stand darauf.

„Tante Dixie?“ Christine riss die Augen auf. Mit der älteren Schwester ihrer Mutter hatte die ganze Familie kaum Kontakt. Sie galt als Esoterik-Junkie und leicht verrückt. Möglicherweise nicht nur leicht. Dixie lebte seit vielen Jahren alleine in Berlin, wenn sie nicht gerade auf einem Dschungeltrip durch Südamerika oder in einem Ashram in Indien war. Das letzte Mal hatte Christine sie vor zwei Jahren gesehen, beim 85. Geburtstag von Opa.

Sie zog das Paket ins Zimmer und legte es auf den Rücken. Mit der Schere durchtrennte sie erst die Transportbänder aus Hartplastik, dann die unzähligen Klebestreifen, die nach keinem erkennbaren Muster um die Ecken und Laschen des Kartons verliefen. Endlich konnte sie das Ding öffnen.

Ein Tiger lag im Karton. Bequem ausgestreckt, Kopf erhoben, die Hinterläufe ragten zur Seite hin unter dem Bauch hervor. Kein Baby-Tiger, sondern ein erwachsenes Exemplar. Nicht ganz Originalgröße, aber auch nicht weit weg davon. Das Fell zeigte herrliche Farben, orange, schwarz und weiß. Sie musste sofort an Hobbes denken, den ausgestopften Tiger von Calvin in dem gleichnamigen Comic-Strip.

„Ein Steiff-Tier?“, kicherte Christine und kniete sich vor den Karton. Der Tiger schaute sie aus großen, schwarzen Augen an. Automatisch streckte sie die Hand aus und streichelte ihm über den Kopf. Das zauberte sofort ein Lächeln auf ihre Lippen. Wie wunderbar flauschig und weich sich das Fell anfühlte!

Zwei Minuten später hatte sie das Tier aus der Box befreit und diese zurück in den Flur geschoben. Die musste sie bald zerschneiden und als Altpapier entsorgen. Außer dem Stofftier hatte sie eine kleine, in Geschenkpapier eingeschlagene Schachtel darin gefunden, und einen Umschlag. Sie nahm beides und gesellte sich zu ihrem neuen WG-Genossen. Der Tiger lag auf dem Teppich vor ihrem Bett und sah so aus, als hätte er sich das als neuen Lieblingsplatz ausgesucht.

„Also — was bist du denn für einer?“, fragte Christine das Tier und musste lachen. Jetzt sprach sie schon mit dem Ding, als wäre sie nicht älter als zehn Jahre. Fasziniert streichelte sie über den geschwungenen Rücken. Überall so weich und zart. Viel kuschliger als der Steiff-Löwe, den sie als Kind mal bekommen hatte. Den mochte sie gar nicht, weil sich das Fell rau und stoppelig anfühlte.

Sie streckte sich neben dem Stofftier aus und betrachtete es forschend. Kein Knopf im Ohr, also nicht von Steiff. Schade, denn solche Riesenexemplare der Marke waren viel wert, hatte sie mal gehört. Überhaupt fand sich nirgends ein Zettel oder ein Logo oder etwas, das auf die Herkunft schließen ließ. Der Tiger sah eigentlich auch nicht aus wie ein Spielzeug, sondern war realistisch gehalten. Ungewöhnlich. Und interessant.

Dieser Geruch — kam der von dem Tier? Sie brachte die Nase dicht an den Hals des Tigers und schnupperte. Vorsichtig, denn wer wusste schon, wie alt das Ding war und wo es schon alles gesteckt hatte.

„Hm?“

Sie blinzelte. Der Tiger roch — frisch! Hatte Tante Dixie ihn gewaschen? Aber nein, das war kein Waschmittelgeruch. Sie schloss die Augen, schmiegte das Gesicht in das superweiche Fell, und sog die Luft tief in die Lungen.

„Mmmm…“

Wow! Danach konnte man ja fast süchtig werden! Sie umarmte das Tier und atmete, roch und forschte. Der Duft, der aus dem Fell emporstieg, war zu fein und zu flüchtig, als das sie ihn genau hätte zuordnen können. Weder süß noch herb, weder scharf noch blumig. Aber unglaublich lecker! Was in aller Welt roch nur so gut?

Sie rappelte sich hoch, jetzt ernsthaft neugierig. Das Kuvert war nicht zugeklebt. Sie zog einen handbeschriebenen Zettel heraus und erkannte sofort die verschnörkelte Schrift ihrer Tante.

„Liebe Christine,

nachträglich herzlichen Glückwunsch zum 18. Geburtstag und zur Volljährigkeit. Bitte verzeihe mir, dass ich bei der Party nicht dabei sein konnte, und dir nicht mal eine Mail oder eine Message geschickt habe. Ich war zu der Zeit auf einem dreimonatigen Schweige-Retreat in den Anden und durfte keinen Kontakt mit der Außenwelt haben.

Deine Mutter sagte mir kürzlich am Telefon, dass du jetzt zum Studieren in die Stadt gehst und eine eigene Wohnung beziehst. Sie klang traurig und meinte, wahrscheinlich wird das für dich ganz schön hart, so ganz alleine. Mir ging es damals auch so — ins eigene Leben zu starten ist fantastisch aufregend, aber es kann auch Angst machen. Und einsam.

Daher möchte ich dir als verspätetes Geburtstaggeschenk und als Starthilfe ins Studentenleben zwei Dinge geben, mit denen vielleicht alles ein wenig einfacher für dich ist. Mir hat beides sehr gutgetan, auch wenn ich mich erst daran gewöhnen musste.

Demnächst ziehe ich nach Kanada und könnte zumindest Tony Tiger nicht mitnehmen. Daher bin ich ganz froh, wenn beides einen guten, neuen Platz bei dir findet und wünsche dir das Allerbeste für das Studium und die nächsten Jahre. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder.

Ganz liebe Grüße aus Berlin

Deine Tante Dixie

P.S.: Ursprünglich hatte Tony einen anderen Namen. Er ist ziemlich alt und stammt aus Bengalen, soweit ich weiß. Aber von mir wollte er so genannt werden. Vielleicht, weil ich als Kind diese Kellog´s Frosties so gerne aß. Möglicherweise brauchst du einen neuen Namen für ihn, aber das wird er dir sagen.“

„Tony Tiger? Aha.“ Sie ließ den Brief sinken und runzelte die Stirn. Süß, dass Dixie an sie gedacht hatte. Aber was sollte sie mit so einem Monstrum in ihrer kleinen Wohnung? Wieder strich sie dem Plüschtier über die Flanke und sog den feinen Duft in die Nase, der ihr so unwiderstehlich vorkam. Wie ein Hauch aus der Küche, wenn man auf den ersten Gang eines Festmahls wartete.

Sie nahm das kleine Geschenk und riss das Papier auf. Darunter fand sie eine neutrale, schwarze Plastikbox. Länglich. Ein edles Schreibgerät? Ein versuchsweiser Druck an der Seite, dann fand sie die richtige Stelle. Die Umhüllung klappte auf. Ihre Augen weiteten sich, ein Quietschen drang aus ihrem Hals.

Im Inneren, auf einem Samtkissen, lag ein dunkelroter Dildo.

So etwas hatte Christine bisher nur auf digitalen Bildern gesehen, angefügt an zotige Messages oder Ähnlichem, aber noch nie in natura. Dennoch erkannte sie auf Anhieb, um was es sich handelte. Die männliche Anatomie war auf das Feinste nachgebildet, von der dicken, pilzförmigen Eichel über die angedeuteten Biegung des Schafts nach oben, bis hin zu unregelmäßige Adern an den Seiten.

Sie setzte die Box mit fahrigen Fingern auf den Boden und rutschte einen halben Meter weg davon. Ihr Atem ging härter, bemerkte sie am Rande. Was in aller Welt wollte Dixie ihr damit sagen? Dass sie sich dieses unsägliche Ding da reinschieben sollte? Als Tröster oder so? Ausgerechnet sie, die verklemmte Jungfrau? Deren sexuelle Erfahrung nicht über ein wenig Knutschen hinausreichte? Wenigstens endete das Teil hinten glatt. Wenn da noch die Eier dranhängen würden, müsste sie jetzt schreien.

Mit Mühe stieß sie ein Lachen aus, doch sie verstummte sofort wieder, als sie ihre eigene Stimme hörte. Der Dildo bannte ihren Blick, sie konnte kaum wegsehen. Und er schien eine eingebaute Heizfunktion zu haben. Oder warum kam ihr die Luft im Zimmer plötzlich so warm vor? Dadurch wurde auch der betörende Geruch des Stofftiers stärker…

„Nein!“

Mit einem Ruck rutschte sie vor, schnappte die Plastikbox und knallte sie zu. Fünf Sekunden später hatte sie das Ding ganz nach hinten in ihren Schrank gestopft, ins unterste Fach. Dort konnte es liegen. Bis in alle Ewigkeit.

„Tante Dixie!“, hauchte sie. „Das ist… wahrscheinlich lieb gemeint. Aber dieses Ding — ich will es nicht! Ich kann das nicht!“

Nur Stille antwortete ihr, und das entfernte Rauschen der Umgehungsstraße. Das klang wie enttäuschtes Schweigen.

„Aber der Tiger ist toll!“, beeilte sie sich anzufügen. „Den nehme ich gerne.“

Als Beweis kuschelte sie sich der Länge nach an das Stofftier. Sofort war ihr leichter ums Herz zumute und das Lächeln kehre auf ihre Lippen zurück. Man konnte einfach nicht mehr entsetzt oder böse oder gestresst sein, wenn man mit den Fingern beider Hände durch dieses Flauschefell kämmte und die Wange daran rieb. Der Geruch von Tony legte sich wie Balsam auf ihre Nerven. Beruhigend, aber nicht einlullend. Sie spürte jede Einzelheit. Den Flaum seiner Haarspitzen. Die Kontur der hochgestellten Ohren, die sich beinahe ledrig anfühlten unter dem Fell. Ihre Brüste, die sich an den Leib des Tieres schmiegten.

So lag sie ein paar Minuten mit geschlossenen Augen und genoss den Frieden. Dann, mit einem Seufzer, rappelte sie sich auf.

„Du bist nett, Tony“, sprach sie ihren neuen Kumpel an. „Aber sag mal: Kannst du mir auch beim Putzen helfen? Das muss ich jetzt noch erledigen.“

Tony rührte sich nicht. Offenbar hatte er wenig Lust darauf.

***

Christine schlüpfte ins Bett und kuschelte sich unter die brandneue Decke. Alles fühlte sich noch so ungewohnt an. Ob sie so einschlafen würde? Doch in dem Moment zwängte ein gewaltiges Gähnen ihre Kiefer auseinander. Hm, wahrscheinlich schon.

Das Display des Handys zeigte 21:33 Uhr. Sie hatte stundenlang geputzt und ihre kleine Wohnung blitzblank gewienert. Als Abendessen gab es Kartoffelauflauf, den hatte sie noch von zuhause mitgebracht. Danach nahm sie eine sündig lange, heiße Dusche und spülte sich den Schmutz des Umzugs von der Haut. Ebenso alle blöden Gedanken, sei es die Erinnerung an den Blick des Paketfahrers auf ihrem Busen, oder der verstörende Dildo, der jetzt im Schrank lagerte.

Nun lag sie im Bett, rechtschaffen müde. Morgen, am Sonntag, würde sie sich die Stadt ein wenig anschauen. Sie hatte noch zwei Wochen bis zum Beginn des Semesters, sehr schön!

Ihr Blick schweifte im neuen Zimmer umher. Alles wirkte so neu und unvertraut. Die Lichtstreifen, die von der Straßenbeleuchtung unten an den Vorhängen vorbei an die Decke geworfen wurden. Der Umriss des Schranks an der Wand. Der Schreibtisch, eine unförmige Silhouette unter dem Fenster.

In ein paar Tagen würde sie sich sicher heimisch fühlen und alles als selbstverständlich nehmen. Doch jetzt schien jedem Alltagsgegenstand so etwas wie ein verborgener Zauber innezuwohnen. Die Glaskuppel der Deckenleuchte wirkte wie ein überdimensionaler Edelstein und der Schatten unter den Hängeschränken der Küchenzeile mochte Feen verhüllen, die neugierig hinter der Küchenmaschine herorlugten.

Tony Tiger lag noch am selben Platz, auf dem Teppich, dicht vor dem Fenster. Die orangenen und schwarzen Streifen seines Fells bildeten im Halbdunkel ein Muster aus Grautönen. Er sah sie direkt an, mit seinen großen, schwarzen Augen, das war auch im Halbdunkel sofort erkennbar.

„Guck nicht so, Tony“, flüsterte sie und musste kichern. „Ist doch gut, da auf dem Teppich, oder?“

Doch das Tier wirkte nicht zufrieden. Christine runzelte die Stirn und schob sich etwas zur Seite, dann nach unten. Interessant! Von wo aus sie Tony auch ansah, er schien sie im Blick zu haben. So wie diese Bilder, von denen einen die gemalten Figuren direkt ansahen, egal wo im Raum man stand. Wie die Designer das wohl hinbekommen hatten?

Sollte sie Tony in ihr Bett holen?, schwankte sie. Aber dann hätte sie nur noch die Hälfte an Platz! Besser nicht. Außerdem: Wie sah denn das aus? Sie war achtzehn Jahre alt und volljährig. Erwachsen! Ein kleines Kuscheltier im Bett, okay, das hatten viele. Aber so ein Riesenvieh?

Der Tiger blickte sie unverwandt an. Er kam ihr einsam vor. Klar würde er viel lieber mit ihr unter der warmen Decke kuscheln. Sie ja auch. Und wenn…

„Moment!“, murmelte sie vor sich hin. „Das ist meine Wohnung. Ich kann verdammt noch mal tun und lassen, was ich will. Und wenn ich ein Riesenstofftier in meinem Bett haben will, dann hindert mich nichts daran, oder?“

Sie lauschte in die Stille. Niemand erhob einen Einwand. Ha!

Entschlossen stand sie auf, schnappte Tony und schob ihn nach hinten, an die Wand hinter dem Bett. Dann warf sie die Decke über sich und ihn und kuschelte sich eng an ihn, das Gesicht an seinem Hals, ein Knie über seinen lässig zur Seite gestreckten Hinterbeinen.

Hm, dieses Aroma! Sie legte einen Arm um den schlanken Leib und drückte die Nase tiefer in das Fell. Jetzt roch es anders. Voller, irgendwie. Lebendiger. Aber immer noch so frisch und rein und klar wie ein Windhauch aus dem Hochgebirge. Sie musste kichern, als sie an den Gestank der Raubtierkäfige im Zoo dachte. Wie gut, dass Tony einer eigenen Rasse angehörte. Panthera Tigris Steifficus oder so.

Hm, dieses sanfte Streicheln, wenn sie mit dem Knie über die Hinterläufe fuhr. Sie drückte sich dichter an ihren Bettgenossen und weitete die Berührung aus, bis sie mit der Innenseite des Schenkels über seinen Rücken fuhr. So gut! Das Fell liebkoste ihre Haut wie eine warme Brise, die einem im Sommer unter den Rock fuhr.

Heu!

Jetzt hatte sie es. Der Kern dieses Geruchs war Heu. Frisch von der Wiese eingebracht, noch ganz saftig und schwer. Musste eine Kindheitserinnerung sein. Aber welche? Sie suchte mit der Nase, schnupperte überall, an der Kehle des Tigers und an seiner Brust. Doch immer, wenn sie meinte, jetzt die Quelle des Aromas gefunden zu haben, dann zog die Spur sie weiter.

Sie hörte sich selbst kichern. Schwach. Ihr Kopf fühlte sich so leicht an. War das die Müdigkeit? Oder kam das von diesem sagenhaften Geruch? Ein weiteres Kichern. Ihre Eltern hatten oft darüber geflachst, was Dixie wohl alles rauchte und einwarf. Konnten das die geruchlichen Überreste früherer Rauschorgien ihrer Tante sein? Exotische Kräuter, die zu farbenfrohen Träumen führten?

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