Hannas Entwicklung geht weiter 2.
Um zu ein wenig Sachlichkeit zurückzukehren, fragte sie: „Wer war das denn, hast du sie gesehen?“
„Ich weiß es nicht. Sie war nackt, hatte lange Haare und saß auf ihm… und…“ Aussprechen konnte sie das nicht, ohne schon wieder in Tränen auszubrechen. Mit ihrer Hüfte und den Armen machte sie daher eine eindeutige Bewegung, die erkennen lassen sollte, dass die Frau sich auf Sam in eindeutiger Weise bewegt hatte. „Sie waren voll dabei, mittendrin, dann hat sie laut gestöhnt und ist von ihm runtergestiegen. Ich bin natürlich sofort rausgelaufen und dann zu dir. Ich wusste auch nicht, wohin.“ Dankbar schaute Hanna ihre Freundin an. Der Blick war dazu geeignet, Berge zum Schmelzen zu bringen und so ging es Anja in diesem Moment auch.
Das darauffolgende Lächeln in Anjas Gesicht strömte eine angenehme Atmosphäre aus und ließ Hanna gleich ein wenig leichter werden. Sie spürte, wie ein großer schwerer Umgang von ihren Schultern fiel, der sie bis dahin festgehalten hatte. Ein schlechtes Erlebnis mit einer guten Freundin zu teilen, heißt manchmal auch, es abzuwerfen und hinter sich zu lassen. Zum ersten Mal nach dem Abend in der Schwimmhalle zogen sich ihre Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln zusammen. Und ihr Lächeln war herzerweichend.
„Magst du Kakao?“, fragte Anja und wollte die Richtung erneut ändern. „Eistee wäre mir lieber.“ Das erleichterte Lächeln in Hannas Gesicht war jetzt wie festgebrannt. Hand in Hand schlenderten sie beide zu dem Kiosk am Rande des Parks. Die paar wackeligen Bistrogarnituren sahen nicht einladend aus, erfüllten aber ihren Zweck. Mit dem Strohhalm im Mund musterte Anja ihre Freundin. Die Augen strahlten eine Unschuld aus, die sie vollends gepackt hatte. Anja musste sich aus diesem Gefühl retten.
„Und was ist mit Sam? Wirst du nochmal mit ihm reden?“
Sie beobachtete den Schwung ihrer Nase von der Stelle zwischen den Augenbrauen bis hinunter zu der Kerbe in der Oberlippe, gerade und doch unheimlich weich, die zarten Lippen, die sich geschmackvoll von dort aus bogen, leicht rosa, lecker, wie zum Küssen gemacht. Und dann die Wange, die von der Nasenmitte als sanfter Hügel abhob, so geschmeidig, sich um das Grübchen schlängelte, wie um einen kleinen Bergsee. Ihre zierlichen Ohren, sanfte Erhebungen im Inneren. Sie hatte mal gelesen, dass die Ohren der Menschen ganz eigene Charakteristika hatten. Hannas Ohr würde sie als -zum Anbeißen- beschreiben wollen. Der Haaransatz über dem Ohr, wo einzelne Haare sich unbändig nach vorne legten und wie feine Fransen herunterhingen.
„Und was meinst du?“ Hannas sah, dass Anja sie so komisch anschaute. „Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?“
„Sicher, ja.“ Anja stockte.
„Und?“ Hannas Hände erhoben sich fragend.
„Ja, ja, sicher. Mach das.“
„Kann es sein, dass du gerade gar nicht mitbekommen hast, was ich gesagt habe? Ich sagte, ich bin nicht sicher, ob ich mit Sam nochmal reden sollte. Auf der einen Seite möchte ich ihm natürlich sagen, wie scheiße ich das fand, auf der anderen Seite kann es mir aber auch egal sein. Im Grunde ist er für mich gestorben.“
Eigentlich hatte Anja nicht ganz uneigennützig nach Sam gefragt. Im Grunde wollte sie wissen, wo sie stand. Die Nacht in dem Schlafsack hatte bei ihr völlig neue Gefühle ausgelöst, die sie selber noch nicht einordnen konnte.
Dennoch bestätigte sie: „Du solltest mit ihm reden. Ich würde es jedenfalls tun. Ich würde sehen wollen, wie er reagiert.“ Anja glaubte, sie habe so gerade mal die Kurve gekriegt.
„Es ist so gut, mit einer Freundin zu reden, die mich versteht.“
Genaugenommen wusste Anja im Moment gar nicht, was Hanna meinte. Sie wusste nur, dass ihre Anwesenheit sie nicht kalt ließ und darum hatte sie auch ihre Mathematikvorlesung sausen lassen.
„Was hast du heute noch vor? Zur Uni gehe ich jetzt eh nicht mehr.“
„Vielleicht könnten wir uns bei dem schönen Wetter heute Nachmittag nochmal treffen.“
Hanna schien sich zu freuen. „Ich melde mich bei dir.“ Mit diesen Worten nahm sie ihr Rad, blickte noch einmal zu Anja, schwang sich elegant auf den Sattel und radelte los. Ihre Pobacken streckten sich nach hinten, als sie mit ihrem Rennrad um die Ecke bog und aus deren Blickfeld verschwand. Anja hielt noch ihren Eistee in der Hand und sah ihr verträumt nach.
Ohne Zweifel hatte es Anja gepackt. Die Zeit mit Hanna war aufregend, auch, wenn sie gar nicht genau sagen konnte, was sie an ihr so faszinierte. Sie war so eine bezaubernde junge Frau, so voller Elan, sie war klug und auf ihre Art auch witzig, das hatte sie bei dem Workshop gesehen. Es war schön, mit ihr zusammen zu sein und sie konnte auch Sam verstehen, dass der sich in sie verguckt hatte. Doch sie war eben eine Frau, eine gute Freundin geworden, mehr nicht. Oder? Wieder versuchte Anja, ihre Gedanken zu ordnen.
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Das Gespräch mit Frau Heinzen war sehr aufschlussreich gewesen. Sie hatte sich, nachdem sie von der Krankmeldung Hannas gehört hatte, sofort für Carla Zeit genommen. Bis jetzt kannten sich die beiden nur flüchtig, aber, wenn es um ihre Schülerin ging, und deren Mutter unbedingt mit ihr sprechen wollte, konnte es nur etwas Wichtiges sein. Hanna war an dem Sonntag so komisch abwesend und ihr gegenüber unerklärlich ablehnend gewesen. Mehrfach hatte sie versucht, mit ihr zu reden. Stets war sie ihr jedoch aus dem Weg gegangen.
Nachdem Carla zunächst nur nach den Geschehnissen an dem Wochenende gefragt hatte, war Ilona unmittelbar auf Sam gekommen. Das konnte das Einzige sein, was so wichtig war, dass diese Mutter zu ihr in die Schule kam. Die Beiden hatten so glücklich ausgesehen und, als Hanna mit ihr gesprochen hatte und ihr erzählt hatte, was sie vorhatte, war sie auf den Vorschlag mit dem Schwimmbad unter der Turnhalle gekommen und Hanna hatte den Schlüssel freudenstrahlend entgegengenommen. Zwar kannte sie Sam nur von den Theaterproben, hatte aber persönlich mit ihm weniger zu tun gehabt. Claire, ihre langjährige Partnerin und Lebensgefährtin, hatte ihr aber viel von ihm erzählt und demnach hatte Ilona absolut keine Vorbehalte gehabt.
Als Carla deutlicher wurde mit den Vorwürfen, die ihre Tochter gegenüber Sam geäußert hatte, zeichnete dies jedoch ein Bild, das ganz und gar nicht zu dem Sam passte, den ihre Partnerin von ihm gemalt hatte. Demnach war er liebevoll, zärtlich und überaus einfühlsam und Ilona konnte sich nicht vorstellen, dass sie beide von dem gleichen Mann sprachen. Letztlich rief Ilona ihre Lebenspartnerin an, um die Telefonnummer von Sam zu erfragen und sie Carla weiterzureichen.
Noch von unterwegs wählte Carla die Nummer von diesem angeblich liebevollen Kerl, der ihre Tochter derart hintergangen zu haben schien. Ohne auf das Thema einzugehen, schlug sie vor, sich zu treffen. Sam willigte sofort ein und bot an, bei ihnen vorbeizukommen. Ein neutraler Platz war Carlas Ansicht nach besser geeignet und so trafen sie sich in einem Café.
„Wo ist Hanna, geht es ihr gut?“ Sam erkannte deren Mutter sofort. Sie hatte enorme Ähnlichkeit mit ihrer Tochter und jetzt stand er wie ein aufgeregtes Kind vor ihr.
Carla bat ihn, sich zu setzen. Sam erklärte, dass Hanna ihn am gestrigen Sonntag völlig ignoriert habe, obwohl sie sich vorher so gut verstanden hatten.
„Haben Sie wirklich keine Erklärung für ihr Verhalten?“ Carla blieb sachlich aber bestimmt.
Sam spürte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. War es wirklich eine gute Idee gewesen, sich mit der Mutter seiner… was war sie denn jetzt?… Ok, es war vielleicht nicht die beste Idee gewesen, sich mit der Mutter der Frau zu treffen, in die er sich verliebt hatte. Jetzt saßen sie aber hier und es wäre wohl noch idiotischer, davon zu laufen. Außerdem war sie offenbar die einzige Person, die ihm im Moment sagen konnte, wie es ihrer Tochter ging.
„Was hat Hanna Ihnen denn erzählt, wenn ich fragen darf?“
„Dürfen Sie. Sie hat mir so ziemlich alles erzählt. Vielleicht nicht jede Einzelheit, aber ich glaube, ich kann behaupten, voll im Bilde zu sein.“
Wenn es ein röter als rot geben sollte, wäre das wohl jetzt in Sams Gesicht zu erkennen gewesen. Mit zittriger Stimme, ob der Autorität, die diese Frau ausstrahlte, begann Sam leise zu murmeln.
„Es gab einen Zwischenfall Samstagnacht. Ich bin mir sicher, dass es darum geht. Das würde ich aber lieber mit Hanna besprechen und nicht mit Ihnen. Ich hoffe, das verstehen Sie.“
„Hören Sie gut zu. Ach, lassen wir dieses Sie.“
Nach kurzer Pause, in der Carla Sams Reaktion abwartete, die aber ausblieb, erklärte sie: „Hanna möchte im Moment nicht mit dir reden. Vermutlich wegen des Zwischenfalls, wie du es nennst. Vielleicht erklärst du mir mal, wie es denn dazu gekommen ist, zu diesem Zwischenfall.“ Die Betonung, die auf dem Wort Zwischenfall lag, war dabei übertrieben stark.
„Also gut.“ Sam stockte, um zu überlegen, wie er es ausdrücken könne, ohne sich selbst in einem zu schlechten Licht dastehen zu lassen. „Ich denke, Hanna hat Ihnen, eh, dir von uns erzählt und sie hat vermutlich auch erzählt, dass wir, eh, dass wir uns näher gekommen sind am Samstagabend.“
Carlas Lächeln irritierte ihn dabei ungemein. Er taxierte sie, um herauszufinden, was sie wusste, fand aber keinen Zugang zu ihr, weil sie ihn permanent anlächelte. Dabei schien sie nicht unfreundlich zu sein, ganz im Gegenteil, und das irritierte ihn noch mehr.
„Mir ist das jetzt extrem peinlich, wie man sich ja denken kann. Aber ich habe nicht bemerkt, dass… ach nein, das kann ich jetzt nicht erzählen. Diese Luisa ist krank, hat sich einfach an mich rangemacht und hat mich regelrecht überfallen. Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist. Ach Gott, ich bin ja auch selber schuld, dass sie nicht mehr mit mir reden will.“ Abwartend sah er Carla an.
Ihr Gesichtsausdruck forderte ihn auf, seine Sicht der Dinge weiter auszuführen. „Was meinst du damit, dass du das selber schuld bist?“
„Ach, ich weiß auch nicht. Wie kann ich denn nicht merken, dass das nicht Hanna war?“ Sam vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
Nach einer kurzen Pause, in der Carla ihrem Gegenüber Zeit gab, über das Gesagte nachzudenken, hakte sie nochmal nach: „Wenn du Hanna doch magst und das alles, wenn ich dich richtig verstanden habe, ein Missverständnis gewesen sein soll, warum bist du ihr nicht hinterhergegangen? Warum hast du nicht versucht, etwas aufzuklären?“
„Das habe ich doch. Ich bin ihr nachgelaufen, habe sie überall gesucht, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt.“
„Sam, es kann sein, dass du die Wahrheit sagst, und dass das alles ein böses Missverständnis war und ich denke, es ist besser, du redest mit Hanna über die ganze Sache. Sie ist zu Hause und weiß nicht, dass ich hier bin. Du sollst aber sicher sein, dass du es bereuen wirst, solltest du mich angelogen haben.“ Carlas Lächeln passte ganz und gar nicht zu dem, was sie sagte. Sam war an sich kein ängstlicher Typ, war sich aber sicher, Carla würde ihre Ansage ernstnehmen.
Nach einem Blick auf seine Armbanduhr sagte er: „Kann ich mitfahren?“ und deutete auf den Autoschlüssel, der auf dem Tisch lag.
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Als Carla zu Hause ankam, saß ihre Tochter im Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster. Eine Zeit lang beobachtete sie Hanna, bevor sie fragte, ob alles in Ordnung sei. Hanna schreckte hoch, sie hatte nicht bemerkt, dass Carla hereingekommen war. „Ja, ja, alles ok soweit.“ Gezwungen lächelte sie ihre Mutter an, dann sah sie wieder aus dem Fenster in den Garten. „Möchtest du nochmal mit diesem Sam reden?“, holte Carla sie wieder in die Realität zurück. „Warum sollte ich das tun?“ Hanna sah ihre Mutter dabei nicht an.
„Vielleicht solltet ihr nochmal reden.“ Carla befürchtete, ihre Tochter würde schon wieder anfangen zu weinen, tat sie aber nicht. Ihr Blick blieb starr, ihre Gesichtszüge wichen nicht einen Millimeter.
„Manchmal hilft es, zu fragen. Was bringt es, dass du dich immer wieder damit beschäftigst, ohne die andere Sichtweise anzuhören. Du kannst zumindest fragen, ob er mit dir reden möchte.“ Carla hatte sich zu ihrer Tochter auf das Sofa gesetzt und fürsorglich einen Arm um sie gelegt.
„Und woher weißt du, dass der überhaupt eine andere Sichtweise hat, und dass er überhaupt mit mir reden will?“
„Er sitzt draußen im Auto und wartet, dass ich ihm sage, er solle reinkommen.“
Hanna drehte ihren Kopf und sah ihre Mutter mit stechendem Blick an. „Warum mischst du dich in meine Sachen?“ Hätte Carla ihre Tochter jetzt noch enger in den Arm genommen, würde sie wieder anfangen zu heulen, das wollte sie vermeiden. Darum fasste sie ihre Schultern und sah sie an. „Weil es dir nicht gut geht und ich möchte, dass du das aus deinem Kopf bekommst.“ Hannas Gesicht verzog sich jetzt nicht, sie konnte dem Drang widerstehen, der versuchte, ihr die Tränen in die Augen zu treiben. Und sie verstand ihre Mutter. Immer hatte sie es gut mit ihr gemeint, so auch jetzt. Obwohl sie nicht den Wunsch verspürte, mit ihm zu reden, nickte sie ihrer Mutter zu und bat sie damit, Sam hereinzubitten.
Ein Fingerzeig reichte, um sein ungeduldiges Warten zu beenden. Hanna verzog keine Miene, als Sam ins Wohnzimmer kam. Er sah sie an und war sich sehr sicher, dass sie seine Umarmung abwehren würde, obwohl er sich so sehr wünschte, sie endlich wieder im Arm zu halten. Auf der Fahrt hatte er Carla gegenüber immer wieder beteuert, dass das alles ein böses Missverständnis gewesen war und er es zutiefst bereute. Carla war das schon auf den Nerv gegangen, sie hatte aber nichts gesagt. Er schien ihr eigentlich ein netter Kerl zu sein, für ihren Geschmack vielleicht etwas schüchtern, aber sie hatte keinerlei Böswilligkeit erkennen können. Darum glaubte sie ihm, zumindest ein bisschen, dass es ihm ernst war mit Hanna und, auch, wenn sie sich die Situation nicht erklären konnte, weil ihre Fantasie nicht dazu ausreichte, glaubte sie ihm, dass er keine bösen Absichten verfolgt hatte.
Als sie angekommen waren, hatte Carla ihm gesagt, er solle im Auto warten, sie würde zuerst mit ihrer Tochter reden. Jetzt saß er ihr gegenüber, schuldbewusst, mit gesenktem Oberkörper und bat zumindest von seiner Körperhaltung her schon um Entschuldigung, obwohl zwischen ihnen noch kein Wort gesprochen worden war. „Ich lass euch mal alleine, ich bin in der Küche, wenn ihr mich braucht.“
Ein stummes Nicken ihrer Tochter wartete sie noch ab, dann ging sie. Minutenlang hörte Carla keinen Ton, was sie aber nicht wunderte. Wer macht in einer solchen Situation schon gerne den ersten Schritt. Vorsichtig lauschte sie, was sich im Wohnzimmer tat.
„Hanna, das musst du mir glauben, ich habe geschlafen und, als ich wach wurde, dachte ich, du wärst das gewesen. Als ich dann die Augen aufmachte und gesehen habe, dass das Luisa war, habe ich sie sofort gepackt und weggeschubst.“ Er sprach leise.
„Luisa?“ Sie schaute Sam ungläubig an. Luisa war doch von ihrem Vater abgeholt worden, wie sollte sie dann dort auftauchen. „Und das soll ich dir wirklich glauben?“ Schluchzend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Mensch, ich liebe dich doch. Glaubst du denn wirklich, ich würde so etwas tun?“ Sam versuchte, Hannas Hände in seine zu nehmen, was ihm aber nicht gelang, weil diese sie wegzog.
„Ich bin dir nachgelaufen, habe dich überall gesucht. In der Turnhalle warst du nicht, dein Platz war leer. Ich bin draußen rumgelaufen, habe das ganze Gelände nach dir abgesucht. Ich habe mir echt Sorgen gemacht.“
Nach einer kurzen Pause: „Hanna, ich liebe dich und ich würde so etwas nie machen, hörst du?“
Sie schaute ihn skeptisch an. Wenn es wirklich Luisa gewesen sein sollte, könnte sie sich das vorstellen, dass sie ihn, wie er sagte, überfallen hatte. Hanna versuchte, sich zu erinnern. Sie hatte die Frau nur von hinten gesehen, genau wie bei dem Fall von Amir in der Turnhalle. Von den Proportionen her hätte sie das natürlich sein können, auch von den Haaren her. Luisa, diese Schlange. Dass er das nicht gemerkt hatte, dass sie selber das nicht gewesen war, machte sie etwas traurig. Aus seinem Mund klang das aber schon plausibel.
Hatte sie ihm jetzt Unrecht getan? Nein, entschied sie für sich. Gerne wäre sie mit Sam zusammengeblieben, hätte noch gerne Zeit mit ihm verbracht, aber das Ganze ging nicht so spurlos an ihr vorbei.
Carla hatte sich, nachdem sie gehört hatte, dass die Beiden miteinander sprachen, wieder in die Küche begeben und war ihrem Tageswerk nachgegangen. Jetzt konnte sie hören, wie Hanna und Sam an der Haustüre standen. Sam war dabei zu gehen, darum eilte sie schnellen Schrittes zur Tür, um ihn noch zu verabschieden. Sie setzte ihr freundliches Gesicht auf, winkte ihm zu und kam sich dabei etwas kindisch vor, tat es aber für ihre Tochter. So sollte ihre erste Erfahrung mit Männern nicht zu Ende gehen. Diese sprach kein Wort und ging an ihrer Mutter vorbei in den Garten. Offensichtlich brauchte sie etwas Zeit. Die würde Carla ihr geben.
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Anja suchte die Adresse, die ihre Freundin ihr gegeben hatte. Mit dem Fahrrad irrte sie durch die für sie fremde Wohngegend. Nette Einfamilienhäuser reihten sich aneinander. Die richtige Straße hatte sie schon gefunden, jetzt fehlte noch die Hausnummer.
Den Typen, der da an der Bushaltestelle saß, kannte sie auch. Es war Sam. Mit einem festen Ruck brachte sie ihr Fahrrad zum Stehen und flüchtete sich zu der Auslage eines kleinen Gemüseladens. ‚Was machte der denn hier?‘ Auf den wollte sie hier jetzt nicht treffen. Eigentlich war sie nur neugierig und wollte sehen, wo Hanna wohnte. Zu Hause angekommen hatte sie sich an die Mathebücher gesetzt, um den versäumten Stoff nachzuholen, hatte aber keinen klaren Gedanken zustande bekommen.
Jetzt stand sie hier und suchte zwischen den verschiedenen Traubensorten, welche denn die süßeste sein könnte. Nachdem der Bus vorgefahren und Sam eingestiegen war, ging es weiter. Sicherlich war er bei Hanna gewesen, aber, was wollte sie noch von ihm? Hatte sie ihm etwa vergeben? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich ins Herz. Die Idee, hierhin zu fahren, war wahrscheinlich doch nicht ihre beste gewesen, wenn für die beiden doch noch eine Chance bestehen sollte. Anja überlegte kurz, was sie machen sollte, entschied sich dann, der Sache auf den Grund zu gehen. Ein wenig Klarheit musste sie haben.
Das Haus mit der Nummer 79 lag etwas zurück. Sie stellte ihr Fahrrad ab und klingelte an der Türe. Eine Frau, etwa um die 40, die Hanna ziemlich ähnlichsah, öffnete. Sie hatte ein freundliches Gesicht. Fragend sah sie Anja an.
„Guten Morgen, mein Name ist Anja. Hanna und ich kennen uns. Ist sie da?“ Carla reichte ihr die Hand.
„Hallo, ich bin Carla, Hannas Mutter. Sie ist im Garten.“ Mit diesen Worten bat sie Anja, hereinzukommen.
„Woher kennt ihr euch, von der Schule?“
„Wir haben uns letztes Wochenende kennengelernt. Ich war auch auf dem Theaterworkshop.“
Hanna hatte ihr von einer Anja erzählt, erinnerte Carla sich jetzt. Sie wies ihr den Weg zur Terrasse, wo ihre Tochter mit dem Handy in der Hand saß und auf das Display starrte.
„Hier ist Anja.“ Hanna sah erstaunt auf.
„Hallo, da bist du ja schon. Ich wollte mich doch bei dir melden.“ Erfreut stand sie auf und führte ihre Freundin mit einer herzlichen Umarmung zu der Sitzgruppe.
Der erstaunte Blick im Gesicht ihrer Mutter war ihrer Tochter nicht entgangen. Diesen erwidernd bedeutete sie ihr, dass sie gerne mit Anja alleine sein wollte. Carla verstand sofort.
„Wenn ihr was braucht…“ Den Satz ließ sie unvollendet und verzog sich wieder in die Küche, aber nicht, ohne die beiden jungen Frauen weiter zu beobachten. Scheinbar hatte das letzte Wochenende dazu geführt, dass Hanna einige neue Bekanntschaften gemacht hatte. Zufrieden machte sich Carla an die Vorbereitung des Salats fürs Abendessen.
Nachdem sich Anja für die tollen Blumen und Sträucher im Garten begeistert hatte, was man unter Smalltalk aus Verlegenheit verbuchen konnte, kam Hanna auf ihre Begegnung mit Sam zu sprechen. Da ihr die Atmosphäre aber zu offen war, zumal ihre Mutter durch die offene Tür alles mitbekommen konnte, schlug sie Anja vor, sich weiter auf ihrem Zimmer zu unterhalten. Carla nahm mit einem missmutigen Blick zur Kenntnis, dass Hanna sie ausschloss. Die beiden jungen Frauen gingen die Treppe hoch und ließen die Tür ins Schloss fallen.