Jay und ihr Bruder in sternenloser Nacht
Die Nacht zu ihren Füßen war schwarz. Triefend schwarz, triefend vor Nässe, aber auch von Staub; irgendwo da unten mussten sich auf schwarzen unbeleuchteten Feldwegen spitzer Schotter mit Schlammpfützen ein Stelldichein geben.
Jay legte ihre Hände auf die raue Mauer, die sie vor der Bodenlosigkeit schützte. Die Höhenwinde waren im Verlauf des Abends müde geworden und zuckten nur noch zaghaft und zuweilen an den Spitzenbordüren ihrer Ärmel, die bis auf die Handgelenke hinausreichten.
Überhaupt war die Nacht müde. Falls es einen Mond gab, der sich in Seen hätte spiegeln können, wollte Jay weder sein silbriges Licht noch die kräuselnden Wasseroberflächen sehen. Nein, sie genoss die Schwärze und das Gefühl des Fallens und des Schreckens des Abgrundes, das sich in ihrer Magengrube auftat.
Das war der Grund, warum sie in dieser schwülen Nacht aus den von Glühwürmchen bestürmten Tanzvergnügen der oberen Stockwerke, mit den rauschenden Krinolinenröcken, dem irren Gelächter und dekadenten Geigensaiten aus schnarrendem Silber, hinuntergerettet hatte in diesen kleinen, ein wenig geheimen, letzten und tiefsten Steinpavillion der schwebenden Zitadelle.
In gewisser Hinsicht war auch das schon ein Fall, aus dem Hellen ins Dunkle, aus dem Lauten ins muffelig Stille, die erst jetzt mit der ganzen Gewalt einer schwülen Sommernacht auf sie eindrang und dunkelglänzende Schweißtröpfchen in ihr Haar netzte.
Ebenso still wie das Kratzen ihrer Absätze auf der gerundeten Mauerkrone, sollte sie sich entscheiden, die Schwärze der freien Luft und irgendwann des ungewissen Erdbodens dem Rattern von Türen in ihrem Rücken vorzuziehen.
Auch ihr Rock würde flattern, ein raues schrtschrtscht aus den weißen Falten wie die Flaggen zum Angelisar-Fest es manchmal in den Sturmwinden von sich gaben; von den Blättern abgeschossen, die es aus den roten Ahorn- und Kastanienmeeren bis hierher heraufschafften.
Von hier oben würde man das Flattern der Rockschöße nicht lange hören. Sie selbst würde es zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr geben. Für sie selbst bedeutete der Sprung aus der Welt auch der Sprung aus dem Ich.
— Wehmütig und übelgelaunt über ihre suizidalen Gedanken, die die schemenwebende Schwärze höhnisch zu ihr hochzuschicken schien, suchte sie, wie fast jede Nacht, den Horizont nach Lichtern ab.
Manchmal meinte sie aus dem Augenwinkel den gelben Punkt einer einzelnen Laterne an dieser oder jener Hügelkuppe, die sich wie ein grauer Wal aus dem übrigen Panorama erhob, zu erhaschen, aber er war stets verschwunden, bevor sie sich darauf hätte konzentrieren können.
Es war ein alter Familienmythos, dass ein Großvater einmal mit einem improvisierten Fluggerät den Absprung gewagt hätte — die andere Art von Absprung, die tatsächlich damit rechnete, heil unten anzukommen.
Jay glaubte fest daran, dass es möglich war; nicht nur, dass er es getan haben könnte, sondern dass es ein Experiment war, das sich wiederholen ließe — und das sich lohnen könnte.
Allerdings glaubte sie ebenso an die ekstatische Rührung, die die ganze Welt überfallen musste, fände tatsächlich ihr Groß- oder Urgroßvater bei einem Spaziergang auf dem Erdboden den Körper ihrer Urenkelin zerschmettert an einer Fichtenkrone.
Und der Glaube an diese Rührung des Selbstmordes, dieses unbedingte, galaktisch überwältigende Gefühl, war es wohl, das ihr Leben zu einem ruinösen Ball aus Furcht und Trotz und Zorn formte, und es ihr nicht erlaubte, jene Konstruktionsskizzen endlich aufzuzeichnen, die ihr an den guten Abenden im Kopf herumgeisterten. Die Abende, an denen sie noch in den blauen, sich langsam tintig einfärbenden Himmel blicken konnte und an Fluggeräte dachte. Nicht an das Fehlen der Sterne und die Widerwärtigkeit von Mondstrahlen.
— Da ging in ihrem Rücken die Tür. Ein Lächeln rückte über ihre schlaffen Züge wie als hätte man ihr Gesicht mit einem Lappen davongewischt. So hatte sie eben auch schon umhergeblickt, als sie noch zwischen den Orchesterklängen leichtfüßig umhergewandelt war: Mit funkelnden, lustigen und zuweilen sinnlich verharrenden Äuglein, züchtig geschminkt, aber mit feurig puterroten Lippen.
Diese Maske aber bröckelte sofort wieder weg, als sie sah, wer sich da hinter dicken Holzbohlen und Eisenbeschlägen hervorschlängelte.
»Jayden.« grüßte sie ihr Bruder.
Sofort stürzte sie auf ihn zu und schlang ihn in ihre Arme. Ihre Wange begann auf seiner Brust zu glühen. Ein ganzer Lastkran an ihr schien plötzlich das Seil der Schwerenot gekappt zu haben und so viel Trauer und Frust sprang von ihr ab.
Auf sein raues olivgrünes Wams drückte sie die erste vorsichtige Träne dieses Abends. Sie versicherte sich über diesen kleinen feuchten Fleck, der ihm nicht auffallen würde, ihr aber bewies, dass sie noch fühlte und es durchaus noch Wichtigkeiten in ihrem Leben gab, bevor sie ihr Kinn hob um ihn, über seine kurzgeschorenen Bartstoppeln hinweg, anzublicken.
»Zack.« flüsterte sie. »Ich habe dich so vermisst.«
Er maß sie mit einem langen besorgten Blick. »Ich habe meine Freunde weggeschickt um hierherzukommen. Ich wusste du würdest hier unten sein. Dich wieder deinen kruden Träumen hingeben. Ich soll dir von Mutter ausrichten, wenn du nicht bald mal deine Schneiderlehre wieder in Gang setzt, setzt sie dich vor die Tür. Und du sollst dich möglichst bald Rikon präsentieren.«
Sie ließ ihre Arme fallen und wich einen Schritt vor ihm zurück wie geschnitten. »Du riechst nach Zimt. Warst du im Morgenland?« fragte sie nur, seine Botschaft ignorierend, als wäre sie nicht da.
Sie stellte sich manchmal vor, sie könnte einfach ihre Pupillen durchwechseln, von rechts nach links rüberschieben wie ein Signalschild. Einfach alles, was das vorige Augenpaar gesehen hatte, verdrängen und einem frischen, babyreinen, klarblauen Platz machen. Die Farbe ihrer eigenen grünen Augen rieb sie auf. Vor dem Spiegel kamen sie ihr versifft vor.
Dieses Mal klappte das Verdrängen nicht. Zacharias erzählte nicht von seiner Reise im Zeppelin und seinen Handelsbeziehungen zum Reich der aufgehenden Sonne, sondern wiederholte nur vielsagend: »Rikon.«
Jay wich weiter bis an die Umfassungsmauer zurück und wandte sich halb wieder der Nacht aus Schwärze und unbestimmter Furcht in der Magengrube zu.
»Ein Lüstling.« kommentierte sie nur.
Gleich würde sie nochmal weinen — aus Enttäuschung. Ihr Bruder präsentierte sich ihr an diesem Abend ebenso als Bote der Dunkelheit wie die Dunkelheit selbst, die sie umgab.
Wie sie wohl von unten aussahen — Ein glühender Stern aus Laternen, ein großer trichterförmiger Bau aus ungezählten Stockwerken und tausend goldenen Bleiglasfenstern. Und dann die letzte Laterne ganz unten, die tiefste, wie eine kleine Positionsleuchte. Ja, Menschlinge, falls ihr da unten in Höhlen hausen solltet: So tief reichen wir hinab.
»Ist er dir auf dem Fest zu nahe gekommen? Flüchtest du deshalb hier runter?«
»Ich komme öfters hierher.« verteidigte sie sich.
Sie wusste, dass ihre Familie sich schämte, dass sie ihren (Zwangs-)verlobten Rikon so lange zurückwies. Sie hatte bislang immer gedacht, ihr Bruder Zack wäre die Ausnahme.
»Aber ja, so oder so ähnlich war’s.« fügte sie schließlich zögerlich hinzu. Es war immer noch besser, ihr Bruder hielt sie für eine Kokette als dass er die düsteren Gedanken erahnte, die sie wirklich an die diese Absturzkante der Stadt trieben.
»Was hast du denn gegen ihn? Immerhin gehört ihr zur selben Zunft. Ihr eröffnet eine kleine Stickereiwerkstatt in der Paulsgasse, du gebärst ihm sagen wir zweidrei Kinder und die liebe Seele und du haben ihre Ruh‘.«
»Sehr witzig.« meckerte sie düster. »Ich –«
»Ja?«
»Ich kann… die Vorstellung einfach nicht ertragen, dass er mich anfässt. Ich sagte doch, er ist ein Lüstling. Ich mag seinen Sabber nicht riechen. Sein Parfum stinkt nach fettig geronnenem Sirup. Seine Fingerkuppen — Seine Fingerkuppen sind furchig und grob wie ein gepflügter Acker und seine Augen suchen mich und suchen mich und suchen mich — und finden mich.«
Fast glaubte sie, die matschbraunen ordinären Augen ihres Verlobten würden sich wie riesige Eisdiamanten hinter ihr in der Nacht auftun. Aber sie drehte sich nicht um.
»Die Vorstellung?«
»Ja.«
»Also… hattet ihr… noch nichts?«
Jetzt hatte er sie. Warum hatte sie nur zögern müssen? »Nein.« log sie.
»Dann sage ich dir: Du machst dir einen riesen Fussel um etwas, das du gar nicht kennst. Das sind alles Paranoia.« Wenn du wüstest, grummelte sie im stillen. »Weißt du, wir Männer sind gar nicht so grob, wie ihr Jungfern immer denkt. Es kann ein durchaus angenehmes und zärtliches Erlebnis sein. Auch beim ersten Mal; Ja, dann besonders.«
»Danke für deinen Rat.« Sie wünschte sich ihn nur noch weg; Wenn er glaubte, sie würde seine Patronisierungen annehmen und folgsam sein, würde er sie hoffentlich endlich allein lassen.
Wenn sie es nicht geschafft hatte, den Zynismus in ihrer Stimme zu tilgen, so merkte er nichts davon. »Ja, bitte!« führte er weiter aus. »Ich muss doch meiner kleinen Schwester — Weißt du, eigentlich hoffe ich, ich könnte noch mehr tun… um dir zu helfen — Weißt du, es gibt Grenzen, die zu überwinden und die… in vertrauter Atmosphäre zu überwinden durchaus tröstsam und heilend sein kann…«
Er hatte sich ihr nun offen zugewandt. Er hatte in seiner Abwesenheit an Muskeln zugelegt. Vielleicht Dattelkisten geschleppt; er war bei den Arbeitern beliebt für seine flache Hierarchie. Seine Brust stach kantig aus seinem Hemd hervor wie Kliffe in grünen Hügeln.
Sie, im Korsett, den Fächer am Seidenbändchen an der Taille, ihre Löckchen spielerisch hochgebunden hinter ihrem schmalen Gesicht, lehnte an einem Tragpfeiler des Steinpavillions, an dessen kühlem rauen Stein sich ihre Hände nun zusammenfanden.
»W. Was meinst du?« stammelte sie.
»Du bist so verängstigt. Die Welt, dein Mann — Du treibst diese tiefe Scharte zwischen dich und die Realität, wie sie wirklich ist. Lass mich dir helfen.« Er betonte die »L«s zu stark, als hätte er getrunken.
Aber seine Hände waren eisenhart, als sie sich auf das Dekolleté ihres Korsetts legten.
Sie hätte jetzt etwas sagen können wie »Lass das« oder klischeebeladener: »Fass mich nicht an«, oder direkt hinter der schweren Tür in die oberen belebteren und festlichen Etagen untertauchen können. Aber wisst ihr was? Es war ihr mittlerweile egal.
Sie fragte sich nur ansatzweise, ob sie nicht eben schon ein stückweit gesprungen war, indem sie ruhig seinen niedergeschlagenen trüben Augen begegnete und seinem Vortasten keinen Widerstand entgegenbrachte als vielleicht ein unruhiges, lediglich in einem leise schimmernden Lichtreflex sich äußerndes, Ekelgefühl ihrer Haut, die seine Fingerkuppen mit ihrer angeborenen Elastizität entgegennehmen musste. Sie ignorierte auch sein haltloses Gestammel, mit dem er irgendwie zu rechtfertigen suchte, warum er gleich die aufgeschnürten Titten seiner Schwester in Händen hielt.
Ein wenig Nachtwind trocknete und verkältete den Schweiß in ihrer Busenritze.
Bald tastete seine Hand, eine schwere, betäubend nach Schweiß duftende Pranke, sich unter die hundert Tüllfalten ihres Rocks.
Sie wusste, der Moment würde kommen. Wo sein Finger daraufstieß; wo er Wärme und vielleicht sogar Feuchte suchte, sie aber verschlossen vorfinden würde.
Sie sparte sich also das mädchenhafte Zusammenzucken, als sie, beinahe mehr am Druck auf ihre Hüfte spürte, wie seine Fingerkuppe sich an das hitzeabstrahlende Metall setzte. Seine Hand entkam dem Tüllgefängnis wie eine raschelnde Schlange dem Laub.
»Was…?« hauchte er.
»Tja. Rikon war wohl schneller als du.« bestätigte sie und zog ihren Rock vollends hoch, um den eisernen Keuschheitsgürtel zu entblößen.
»Den hat er mir angelegt. Hat mich mit vorgehaltener Faust gezwungen mich vor ihm auszuziehen. Klick.« imitierte sie das Geräusch des Schlosses und tippte mit ihren Ringfinger auf die Metallplatte, die ihre Scheide schützte. Sie dachte kurz daran, dass auch dieses Eisen zusätzlicher Ballast sein würde, wenn sie spränge.
Sie sah ihn mit sich ringen, seine Hände sich kneten. Aber sie sah es auch in seiner Hose pochen. Und sie hatte nie Zweifel daran gehegt, zumindest den Geräuschen zufolge, die den heftigen Streits mit seiner verlobten Cornelia folgten, wo Zack in solchen Fällen seine Prioritäten setzte.
Trotzdem hauchte sie ein »Nicht, Zack. Stürz mich lieber hinunter.« in die Maske seines Gesichts, als seine Finger sich wie aus zu vielen Scharnieren in ihre zurückgesteckte Frisur krallten und ihren Körper langsam vor ihm auf die Knie zwangen.
Wo er seine gewachsene Erektion entblößte und in ihr Gesicht drängte, zuerst abgleitend, dass seine schwammige Spitze ihr Auge erreichte, und dann gerade in ihren Mund hinein, zwischen ihren Lippen hindurch, die sich instinktiv in tiefer, so urtief bestimmter Fraulichkeit auftaten.
Dann mehrmals hinein und hinaus; sie lauschte ihrem eigenen Glucksen.
Sie hätte ihn sicher beißen können oder es in dieser oder jener Art unangenehm gestalten.
Aber er war immer noch ihr Bruder. Wenn er sich mit sich selbst das Recht bestritten hatte, seine kleine suizidale Schwester zu vergewaltigen, fand sie, sollte sie die letzte sein, die es ihm absprach.
Als er endlich zum Höhepunkt kam und sich in sie entleerte, was sie wiederum mit nur sachtem Ekel als warmen Strahl an ihrem Gaumen empfand, sah sie, wie sich sein Gesicht erst auflöste, um dann in Scham und Entsetzen wiederzukehren.
Sie registrierte, dass unter ihren Knien das Kleid verrutscht war und sie bald auf den bloßen kalten Steinplatten kniete.
Er ergriff die Flucht und stieß sie dabei — wer weiß, ob versehentlich oder nicht — zurück, sodass sie aufspringen musste, um nicht mit dem Kopf an die Mauer zu knallen.
Sie taumelte zurück, indem er die Tür hinter sich zuknallen ließ, dass es selbst hier in der Offenheit des Ausblicks noch wiederhallte.
Sie spürte die Mauerkante sich fast absurd vorsichtig an ihre Hüfte drücken, dann verlor sie das Gleichgewicht.
Und fiel in die Nacht — — Nein, im letzten Moment gelang es ihr, mit ausgestreckter Hand die Mauerkrone zu fassen!
Ihre Füße baumelten in freier, rauschhafter Schwerelosigkeit. Aber während der Samen ihres Bruders ihr warm aus dem Mundwinkel rann, begann sie um Hilfe zu schreien.